6. März 2019

Artikel im Sonntagsblick Sonderausgabe Auto

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Zeiten-Wende

Der Wechsel von Sprit zu Strom trifft ausser den Automarken die Schweizer Autoindustrie, die den Grossen mit Know-how und Hightech zudient. Ein Blick auf eine arg unterschätzte Branche im Wandel.

Die Autozukunft entsteht in Sindelfingen, in Detroit, in Wolfsburg – und in Niederbüren. Wie bitte? Niederbüren SG: 1500 Einwohner, Thur, A1 – und die Aluwag AG, seit 1971 Expertin für Alu-Druckguss. Vier Fünftel davon für Autos. Ein Beispiel: Statorträger in E-Motoren der obersten Powerliga müssen Topanforderungen erfüllen und kommen von Aluwag. «Weil wir die Materialkompetenz haben, flexibel und schnell sind. Darin ist die Schweiz gut», erläutert uns Mitinhaber Markus Wagner (43), der diesen Familienbetrieb in zweiter Generation mit Cousin und CEO René Wagner (45) führt. «Wir haben eigene Legierungen entwickelt, die höchste Anforderungen abdecken, damit unsere Kunden das leichte Aluminium verwenden können und nicht zu schwereren Materialien wie Stahl wechseln müssen. Gerade im E-Auto zählt jedes Gramm weniger!» Keine Angst vor der Wende vom Sprit zum Strom? «Nein. Für uns ist das seit etwa drei Jahren ein Thema. Unser Entwicklungsaufwand steigt, aber genau darum sind wir gerüstet», betont Markus Wagner schmunzelnd.

Die Ostschweizer sind typisch fürs Autoindustrie-Land Schweiz: Klasse statt Masse, brillant statt billig und hoch automatisiert. Mit 110 Mitarbeitern ist Aluwag ein KMU – wie neun von zehn Firmen in der Schweizer Autoindustrie. Es fertigt Bauteile – wie fast die Hälfte aller dieser spezialisierten Firmen. Und die wiederum sind meist für den Antrieb – wie bei 42 Prozent der hiesigen Teilehersteller.

Niemand kennt Zahlen und Branche besser als Anja Schulze (45), Direktorin Swiss Center for Automotive Research (Swiss Car) der Uni Zürich: Nach 2008 und 2013 hat sie mit ihrem Team 2018 das Standardwerk zur öffentlich fast unsichtbaren – und unterschätzten! – Branche erneuert. Ihre Analyse zur Schweizer Autoindustrie kommt auf 574 Firmen, die bei uns (also ohne ihre ausländischen Werke gerechnet) 12,3 Milliarden Franken im Jahr umsetzen und damit hier 34 000 Menschen in Lohn und Brot halten.

«Von den mit Antrieben beschäftigten Unternehmen ordnen 27 Prozent ihre wichtigsten Produkte noch dem Verbrennungsmotor zu, aber 19 Prozent bereits dem E-Antrieb. Noch 2013 waren es nur sieben Prozent. Das ist fast das Dreifache und zeigt, wie dieser Bereich an Bedeutung zunimmt», erläutert Schulze. Ob alle die Wende packen? «Pauschal lässt sich das nicht sagen», resümiert Schulze. «Noch ist es eher eine Evolution als eine Revolution bei einem Elektroauto-Anteil an Neuwagen im einstelligen Prozentbereich. Die Schweizer Autoindustrie kann es schaffen, aber «Business as usual» reicht nicht aus. Und angesichts des höheren Preisniveaus muss die Schweiz in der höchst preissensitiven Branche auch etwas zu bieten haben. Aber im Moment gehts der Branche recht gut. Die Mittel für den Wandel wären also vorhanden.»

Kein Wunder, denn in fast jedem Neuwagen steckt schliesslich ein Stück Schweiz, ob als Know-how oder als Komponente. Wir sind eines der Entwicklungslabore der globalen Autoindustrie – und vor allem deutscher Edelmarken. Ein Fünftel der Betriebe ist seit mindestens 50 Jahren, ein weiteres Fünftel keine zehn Jahre im Geschäft: Zu etablierten Grössen wie beispielsweise Feintool aus Lyss BE oder Sonceboz Microtechnique aus Boncourt JU stösst Nachwuchs wie etwa das in Lausanne gegründete, nun in Zürich residierende Start-up Wayray, das holografische Head-up-Displays für Augmented Reality in petto hat.

Sehr schweizerisch wimmelt die Branche vor Hidden Champions: Keiner kennt sie, jeder nutzt ihre Produkte. Wer weiss schon, dass in Sennwald im St. Galler Rheintal ganz grosse Automarkennamen bei Brusa Elektronik vorsprechen, wenns nur die allerbesten Komponenten fürs E-Auto sein sollen? Oder wem ist bewusst, dass Autoneum (ehemals Rieter) aus Winterthur ZH Weltmarktführer im Akustikund Wärmemanagement ist und in E-Autos dafür sorgt, dass kein Störlaut den leisen Lauf durchbricht und die Dämmung trotzdem nicht schwer wiegt?

Die Autoneum-Lösung: Hightech. Dasselbe gilt für Firmen, die man beim Thema E-Mobilität gar nicht erst auf dem Radar hat. Etwa den Schmierstoffspezialisten Panolin aus Madetswil ZH, der mit gut 100 Mitarbeitern die Ökonische besetzte, ehe sie zum Trend wurde – auch dies typisch Schweiz. Schon 1993 hatte Panolin Öko-Hydrauliköl und 2000 partikelarmes Motoröl entwickelt, und seit eineinhalb Jahren ist eine Kühlflüssigkeit für E-Motoren in Arbeit. «Unsere Firma ist 70 Jahre alt, und erstmals verändert sich der Markt komplett», sagt Silvan Lämmle (39), Chef des Familienbetriebes in dritter Generation. «Abwarten wäre fatal. Innovationskraft ist die Schweizer Stärke. Und unsere!» Und woraus besteht die Flüssigkeit? «Das Rezept ist geheim wie Appenzeller Kräuterschnaps», sagt Lämmle augenzwinkernd.

Wiederum andere müssen sich nicht auf E-Mobilität einstellen, weil sie schon stromerten, als man sie dafür noch belächelte. Sei es Carrosserie Hess aus Bellach SO mit erst totgesagten und heute wieder gefragten Trolleybussen für den ÖV. Oder Kyburz Switzerland. Der letzte Schweizer Personenwagenhersteller Martini ging 1934 ein, aber in Freienstein ZH und Embrach ZH entstehen hier entwickelte und gebaute E-Fahrzeuge. Als Martin Kyburz (54) das heute gut 100 Mitarbeiter starke KMU 1991 gründete, war er der Typ mit dem Elektrospleen. Heute laufen 20 000 Kyburz in aller Welt und sorgen bis nach Australien dafür, dass die Briefe leise und abgasfrei kommen. Denn Kyburz baut die E-Dreiräder der Post und den E-Roadster e-Rod (am Genfer Autosalon erstmals mit eigenem Stand). «Schweiz ist auch ein Imagevorteil», erläutert Martin Kyburz. «Wir sind nicht die Billigsten, aber Innovation und Qualität sind top. Die Zukunft kann kommen!»